Noch bis vor Kurzem galt, dass genetische Faktoren unumstößlich und unabänderlich die Ausprägung einer körperlichen Konstitution, der Gesundheit sowie von Persönlichkeitsmerkmalen prägen. Eine genetisch bedingte Erkrankung war damit als ein unausweichlich eintreffendes Schicksal anerkannt. Sehr neue Forschungen in der Biologie machen hier zunehmend berechtigte Zweifel geltend.
Bis zu 247 Millionen Basenpaare wollen gemanagt werden
Dazu muss man sich vorstellen, dass das Gen nicht nur aus der DNA besteht, bei der Anzahl und Codierung der Basenpaare die Erbinformation festlegt. Damit die Gene, das grösste menschliche hat immerhin 2,5 Millionen Basenpaare, oder besser die Chromosomen, hier sind es bis zu 247 Millionen Basenpaare, überhaupt in den Zellkern passen, müssen sie verpackt werden. Diese Aufgabe übernehmen Histone. Das sind Proteine, um die sich die DNA wickelt. Auch zum Entpacken oder Abruf der Informationen sind weitere Stoffe notwendig. Dazu tragen in diesem Falle Acetylgruppen bei. Dies wird Histon-Acetylierung genannt.
Die Gitarre ist gleich, Spieler und Umwelteinflüsse entscheiden was und wie gespielt werden
Extrem vereinfacht kann hier ein Vergleich mit einer Gitarre gewagt werden. Nur hat das Instrument für gewöhnlich einen Hals und nicht zwei. Auch verfügt es lediglich über 22 oder 24 Bünde und nicht über 247 Millionen. Dennoch kann idealer Weise auf einer Gitarre alles von Volksmusik bis Hard Rock gespielt werden. Dafür sind äussere Einflüsse, wie Stimmung oder die Hände des Spielers verantwortlich. Auch kann es passieren, dass durch mechanische Einwirkung, Temperatur oder Feuchtigkeit einzelne Bünde nur noch scheppernden Lärm von sich geben. Wird auf diese jedoch nicht zugegriffen, bleibt das Spiel sauber. Der Griff auf einen Bund kann mit dem Anlagern von Methylgruppen an eine bestimmte Stelle der DNA verglichen werden, wodurch die dahinter liegenden Sequenzen nicht mehr gelesen werden. Der Ausdruck dafür ist Methylierung.
Mit Epigenetik kann erstmals verstanden werden, wie Gene aktiviert und deaktiviert werden
Genau damit beschäftigt sich die Epigenetik, also mit dem, was zur Genetik dazu kommt. Tatsächlich werden nämlich nicht alle Informationen vom genetischen Code abgelesen. Ausserdem wird die Codierung individuell unterschiedlich umgesetzt. Das heisst, bei dem Einen werden "gute" Gene ein- und "schlechte" ausgeschaltet und bei dem anderen umgekehrt. Intergenerationelle sowie Studien an Zwillingen konnten belegen, dass diese Faktoren sich im Laufe eines Lebens ausprägen. Sie sind also von Umweltfaktoren oder Stoffen, die wir zu uns nehmen, sowie selbst psychischen Faktoren abhängig. Darüber hinaus konnte eine Vererbbarkeit nachgewiesen werden.
Noch ein langer Weg bis zur "epigenetischen Lebensweise"
Das heisst nicht mehr und nicht weniger, als dass Erkrankungen, wie Krebs, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Leiden, bei denen bisher von einer genetischen Disposition ausgegangen wurde, stärker auf individuellen Verhaltensweisen basieren als angenommen. So gross auch die Chancen sind, durch die Erkenntnisse der Epigenetik in Zukunft unter anderem den Ausbruch dieser Erkrankungen vermeiden zu können, ist es derzeit gewiss noch zu früh, eine "epigenetische Lebensweise" zu formulieren. Und dennoch, formen sich zunehmend einige Hinweise. In grünem Tee beispielsweise ist Epigallocatechin-3-Gallat (EGCG) enthalten, das ein Gen aktiviert, welches eine Widerstandsfähigkeit gegen Krebs in Gang setzt.